Bunol 1998Die rote Hölle von SpanienDer mit überreifen Tomaten vollbeladene Schwertransporter schiebt sich im Schrittempo durch die grölende Masse. Die Frontscheibe klebt voller Tomatenschleim, pausenlos knallen die Früchte gegen den Laster. Hinten auf dem Container sitzen Menschen in Taucherbrillen; sie stehen auf der Munition: 30 Tonnen Tomaten. Die ’Tomatina’ tobt! Jeden letzten Mittwoch im August lädt die spanische Kleinstadt Bunol nahe Valencia zur weltgrößten Tomatenschlacht. Insgesamt 130 Tonnen des roten Gemüses werfen sich 25.000 Verrückte eine Stunde lang gegenseitig in die Gesichter, um Bunols Stadtpatron San Luis Beltran zu huldigen. Wir wollten mit S. U. F. F. während dieser Schlacht ein Konzert geben. Schon am Abend vor der ’Tomatina’ wird uns klar, daß es schwierig wird. Bunol befindet sich in Belagerungszustand. Alle Straßen sind hoffnungslos mit Autos zugeparkt. Mit dem Van kommen wir da nicht durch. Das Verkehrschaos bringt unseren Fahrer an den Rand eines Nervenzusammenbruchs. Am nächsten Morgen werden wir es erneut versuchen. Wir haben einen Plan: In der Frühe, wenn in Bunol noch alles schläft, schleichen wir uns auf den Marktplatz und bauen die Instrumente und das Stromaggregat auf; dann sind wir in Position. Wir stellen die Wecker. Gegen Sieben räkelt sich ein Schlafsack. Er berührt leicht eine nur halb ausgetrunkene Cidre- Flasche. In Zeitlupe fällt diese um und ergießt sich über die Füße eines benachbarten Schläfers. Zwei Stunden später sind alle wach. Vergeblich versuchen wir, zum Marktplatz vorzudringen. Alle Straßen sind gesperrt. Das Stromaggregat ist zu schwer und die Basstrommel zu groß. Wir lassen die Instrumente im Van und setzen uns in Richtung Markt in Bewegung. Die Kamera wird wasserdicht verpackt. Durch die überfüllten Gassen bahnen wir uns einen Weg und werden immer wieder mit Wasser überschüttet. So sollen die Hitzköpfe ahgekühlt werden. Die Kamera funktioniert noch. Der Lärm tausender Schlachtenbummler schlägt uns von weitem entgegen. Die Häuser sind mit riesigen Plastikplanen verhängt. Ihre weißen Fassaden sollen vor dem roten Gemüse geschützt werden. Das Getöse wird lauter; die Gassen enger. Wir nähern uns dem Marktplatz. Dann biegen wir um die letzte Hausecke und bleiben wie versteinert stehen. Unzählige nasse T- Shirts fliegen über die Köpfe der
25.000 versammelten Menschen. In Chören schreien sie nach ’Aqua!’
und strecken die Hände den Wasserschläuchen entgegen. Aus ein
paar Schlitzen in den Plastikfolien ragen die Objektive von Femsehkameras.
Vor der kleinen Kirche reckt sich ein fünf Meter hoher, mit Seife
eingekleisteter Holzpfahl in die Höhe. An ihm versuchen einige Kämpfer
hochzuklettern und den am oberen Ende befestigten Schafsschenkel zu ergattern.
Die Meute grölt und feuert die Männer an. Verbissen treten sich
diese gegen die Köpfe. Ein besonders motivierter Kämpfer schafft
es nach einer halben Stunde. Die ’Tomatina’ ist eröffnet. Wenig später
schieben sich nacheinander fünf Schwertransporter durch die Menge
und hinterlassen Berge von Tomaten. Die Krieger stürzen sich sofort
auf das Gemüse; Irrwitz glänzt in ihren Pupillen. Mit beiden
Händen krallt man nach den Früchten und bewirft damit alles,
was sich bewegt. Ein unbeschreibliches Inferno bricht 1os. Der Wahnsinn
hat das Antlitz einer Tomate. Links und rechts hört man, wie die Geschosse
um die Ohren pfeifen. Zuerst sucht man noch nach einem Feindbild: Wen will
ich in die Visage treffen? Doch alle lachen dich an. Und du lachst mit.
Bald steht man knietief in der Tunke. In allen Körperöffnungen
kitzelt der Brei; ein Hauch von Ketchup liegt in der heißen Luft.
Ein Lachkrampf jagt den anderen, bald tut der Bauch weh. Ich will ein Foto
machen und kratze das Tomatenfleisch von der Linse. Ganz kurz halte ich
den Apparat über meinen Kopf und drücke auf den Auslöser.
Noch funktioniert er, wenig später wird er versagen. 1nzwischen ist
der letzte Laster entladen, die Luft klebt rot. Von den Folien tropft Tomatensaft.
Wir beschließen den Rückzug. In allen Gassen stehen Bewohner
mit Wasserschläuchen vor ihren Häusern. Sie lachten uns an. Wir
duschen uns, so gut es geht, den Sud vom Leib. Die Haare sind verklebt,
die Schuhe völlig aufgeweicht. Wir grinsen uns an wie kleine Jungs.
“Und hier wollten wir spielen... O Gott, sind wir naiv! Vielleicht im nächsten
Jahr von einem Balkon...“.
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